Die Medea von Pasolini

L'étrangère

Eine Erzählung kann als solche zusammengefast, nach einem bestimmten Schema in aufeinander logisch folgende Sequenzen auseinandergesetzt, abstrahiert und somit als Ganzes interpretiert und einem Weltbild zugeordnet werden. Obgleich dies auch beim Argonautenmythos zutreffen mag, scheint dessen Nachleben sich insbesondere auf das ungelöste Ende des Kindermords zu konzentrieren. Wenn der Mythos im Allgemeinen als besonderer Modus der Sprachverwendung Blutsverwandtschaft und familiäre Beziehungen zum Ausdruck bringt, ist es im Medeamythos die Spannung zwischen unterschiedlichen Vorstellung von gesellschaftlichen Verbindungen, die Missstände und das darauf folgende tragische Ende hervorruft, der Mord an den eigenen Kindern. Die Schwierigkeit, eine solche Handlung nachzuvollziehen, hat eine vielleicht nicht gerechtfertigte Suche nach komplexeren psychologischen Motivationen gefördert und somit auch beachtlich zum Nachleben dieser Mythenpassage beigetragen.

Die Geschichte der Aioliden ist durch mehrere aufeinander folgende, aus moderner Sicht, politischen Exilen geprägt. Ino steht ihren Stiefkindern Helle und Phrixos missbilligend gegenüber und bewirkt letzten Endes deren Flucht aus Iolkos in Richtung Schwarzes Meer. Diese erste Entwurzelung verstreut die Nachfahren der Familie und bringt sie, nicht nur geographisch sondern auch politisch, auseinander. Die Flucht fordert mit dem Absturz der Helle in die Dardanellen ein erstes Opfer und erschwert die bürgerliche Beziehung des Phrixos mit seiner ursprünglichen Heimat, zumal sein Bestreben sich darauf konzentriert, sich unter Nicht-Griechen niederzulassen und in einer stark religiös geprägten Gesellschaft einzufügen. Auch wenn er keine andere Wahl hat: an eine Rückkehr in die Polis ist vorerst nicht zu denken. Eine Vermählung und die Opfergabe des Widders, der ihnen, von ihrer Mutter Nephele geschickt, zur Flucht verhalf, begründet den neuen Bund mit Kolchis.

Später ist es in Iolkos die Rivalität zwischen den Stiefbrüdern Pelias und Aison, –die doch nur als entfernte Verwandte zu betrachten sind, wenn man bedenkt, dass das Abstammungsverhältnis stets väterlicherseits bestimmt wurde– die in weitem Sinn eine Überbrückung dieser Distanz mit sich bringen wird, wenn auch nur als Vorwand des Pelias, um seine Vorrangigkeit beizubehalten. Nachdem Aison die politische Macht, die ihm zustand, vorenthalten wurde, benutzt Pelias das goldene Vlies, das inzwischen weit über Kolchis hinaus an Ruhm erlangt hat, als Mittel, um auch seinen Neffen vom Thron abzuhalten. Diese List wendet sich jedoch gegen den eigenen Pelias, der die familiären Bünde, die zwischen Iolkos und Kolchis existieren und somit auch die Möglichkeiten Iasons, das Vlies zu erlangen, unterschätzt.

Medea ist, als Nachfahrin des Sonnengottes Helios und Anbeterin der Hekate, eine mit der Erde, die sie belebt, stark verbundene Person. Ihr Zusammenhang wird durch ritualisierte Bräuche formell zum Ausdruck gebracht und doch besteht in der Verbindung das Magische, eine nicht logische Essenz. Das Eindringen zuerst des Phrixos und dann, in größerem Maß, des Iasons, eröffnen der Medea neue Richtungen, die ihre ursprünglichen Lebensangewohnheiten aus dem Gleichgewicht bringen.

Pasolini verstand den Film als Realitätssprache und konfrontiert ihn somit mit der traditionellen narrativen Konvention, welche in der Medea des Euripides einen Höhepunkt erlangt. Die primitive Medea, jeglicher pejorativer Konnotation des Primitiven entbehrend und selbst in ihren Bräuchen und Vorgängen höchst formalisiert, steht somit der entwickelten Kultur und ihren Richtlinien, verkörpert durch ihren Mann, den Griechen Iason, gegenüber. Das Aufeinanderstoßen zweier Individuen unterschiedlicher Kulturkreise und die Inkompatibilität der verschiedenen Wertevorstellungen bringen die Unverständnis des Einen gegenüber seiner Frau und die Unfähigkeit der Anderen, sich den politischen Werten des Griechentums anzupassen, zum Vorscheinen.

Die Gegenpole der primitiven und der entwickelten Gesellschaft, verkörpert jeweils durch die barbarische Medea und den Griechen Iason, stehen sich nicht, insofern der Mythos nicht der in der Sprache konventionellen Zeitauffassung Gebrauch macht, in einem diachronischen Sinn gegenüber. Auch ist es fraglich die Dissonanz auf einen rein geographischen oder gar ethnologischen Umstand zurückzuführen. Viel mehr werden im Mythos dem Menschen innewohnende Konflikte thematisiert und in ihren Auswirkungen ausgespielt. Wenn sich also Medea und Iason als Fremde gegenüberstehen, verkörpern sie somit nicht einen erstarrten, sich selber immer gleichbleibenden Status menschlicher oder kultureller Entwicklung. Eher inszenieren sie, beinahe spielerisch, die Spannungen, die gesellschaftlichen Beziehungen von Natur aus innewohnen. In der Verfilmung von Pasolini heißt es gleich am Anfang, im Diskurs des ersten Zentauren, dass alles heilig sei. Die Natur bietet in ihrer unbekümmerten Reinheit auch für den jungen Iason eine gänzlich mythische Lebenserfahrung, eine, die in ihrem Realismus nicht zu übertreffen sein wird.

Ein Zeitsprung befördert den Zuschauer zu Medea und offenbart in der Szene einer menschlichen Opfergabe, wie sie, als Priesterin, sich jene natürliche Reinheit zu eigen gemacht hat. Die Gemeinschaft strukturiert sich im Ritual um die Bräuche, die ihre Gebundenheit mit der Erde und ihrer Fruchtbarkeit formal zum Ausdruck bringen. Die einzigen Wörter sind die der Medea, die die Gottheit dazu auffordert, den Samen Leben zu geben. Ansonsten überwiegen –in Übereinstimmung mit dem religiösen Kontext– bewegte, gesungene oder mimetische Ausdrucksformen. Zeitgleich begibt sich Iason, nach der Aufforderung seines Onkels, auf den Weg in die Kolchis. Schon dort kommt seine lustige Natur zum Vorscheinen. Iason unterliegt seinen Trieben, die er zwar nicht zügelt, aber doch zum Ausdruck bringt, wodurch er sich von Medea unterscheidet. Er und sein Gefolge fangen Pferde ein und überfallen Heiligtümer in Sequenzen, die veranschaulichen, inwiefern sich die natürliche Spontanität Iasons von der Art und Weise der Medea unterscheidet. Dies wird umso deutlicher als etwas später Medea in einer Vorahnung beim Gebet durch Iason unterbrochen wird und sich fast augenblicklich dazu entscheidet, dem Fremden und seinen Gefährten mit ihren Vorhaben zu helfen: Der Eindrang ist ein abrupter Wendepunkt. Hier wird die Spannung erstmals inszeniert: durch Taten und vor allem durch die Gestik der Akteure werden die identitätsstiftenden Eigenschaften visuell skizziert. Ein instrumentalisierter, gutmütiger Absyrtos gehorcht seiner hochmütigen Schwester, die dem spielerischen Iason gegenübersteht. Auch hier wird das gesprochene Wort auf das Minimale reduziert, die Expressivität beruht auf der „Pasolinianischen“ Filmsprache.

Die erste, wohl offensichtliche Schuld der Medea ist es, ihrem Heiligtum das goldene Vlies entnommen zu haben. Der Mord an ihrem Bruder jedoch ist im Film stark relativiert, wo der Zuschauer doch noch die Opfergabe der ersten Szenen vor Augen hat. Wenn der Zweck die Mittel heiligt, ist Medea in ihrem Handeln zuerst als Priesterin und danach als Verliebte gerechtfertigt. Fraglich ist nur, wie sich die Tatsache, dass der geopferte eben Verwandter der Medea ist, auf eine moralische Beurteilung unter ihren eigenen Volksgenossen auswirken mag. Jedenfalls scheint es die Verfolger zu verpflichten, die Überreste des Sohnes ihres Königs aufzusammeln. Als der Mutter diese Überreste vorgelegt werden, ist sie entsetzt und bricht in ein Klagegeschrei aus, dem sich die Dienerinnen anschließen, ohne dass dabei ein gesprochenes Wort fiele.

Nach der Fahrt über das Wasser ergibt sich das Festland erstens jedoch als dürre, verwüstete Erde. Jenes Land bietet Medea keinen Halt und ist auch generell unfruchtbar. Als sie die Männer dazu auffordert, den ersten Akt der Götter nachzuahmen und einen Baum, das Zentrum zu finden, stößt sie in ihrer Verzweiflung nur auf Unverständnis. Sie hat ihre Bindung zu Erde und Sonne verloren und bittet beide darum, sie anzusprechen. Sie ist jedoch nicht fähig in diesen Umständen ihren Bund mit Erde und Natur so wiederherzustellen, wie sie ihn in Kolchis zu pflegen übte: Es bleibt still. Ersatzmäßig dient die Vollziehung des sexuellen Aktes mit Iason, ein von den restlichen Männern besungenes Ritual, als Gegenstück für die natürliche, nicht mehr zu rekonstruierende Bindung zwischen Medea und der Erde.

Trotz des Verlustes der Kräfte, die ihrer magischen Beziehung zu den Urelementen entsprangen, ist Medea immer noch in Besitz einer magischen Ausstrahlung, die die Frauen in Iolkos in Angst und Schrecken versetzt. Pelias hällt sein Versprechen nicht, doch Pasolini lässt dies damit werten, dass Iason seinen Onkel darauf hinweist, dass das Vlies als Symbol außerhalb des eigenen Landes keine Bedeutung und somit auch keine magischen Kräfte besitzt. Iason und Medea verlassen Iolkos und ziehen nach Korinth. Nun sind beide vollkommen entwurzelt, was dadurch zum Ausdruck kommt, dass sie in Korinth, von der Gemeinschaft abgegrenzt, außerhalb der Stadtmauern leben. In dieser Stadt wird die spirituelle Katastrophe, die schon seit Langem ihren Anlauf nimmt, zustande kommen. Der alte, heilige Zentaur steht jetzt dem neuen, unheiligen Zentaur gegenüber, gleichzeitig: Nichts ist mehr heilig.

Während Iason versucht, an dem städtischen Leben teilzunehmen, verbirgt sich Medea hinter der Zauberin, die sie mal war und die allerseits gefürchtet wird. Nichts desto Trotz, hat sie ihre Kraft verloren und kann sich an ihren Gott nicht mehr erinnern. Es ist die Ankündigung der Hochzeit, was Medea außer sich –oder in sich– bringt und dazu führt, dass sie aufs Neue die Stimme des Vaters ihres Vaters vernimmt. Die Inbrunst steigt in einem Auftakt, der jene delokalisierte Medea in die rasende, wuterfüllte und leidenschaftliche Frau verwandelt. Der Sieg und somit die Rache, wird blendend sein, es ist Zeit zum Handeln. Medea hat einen Traum, in dem die Königstochter Glauke an dem Brautkleid, das sie von ihr geschenkt bekommen hat, verbrennt und umkommt. Doch diese ahnt, dass die Ausländerin ihr feindlich gesinnt ist und somit weist ihr Vater, der König Kreon, Medea und ihre Söhne aus seiner Stadt. Es ist unmöglich, in den Grund einer Seele zu schauen. Wohl deshalb gewährt er ihr und ihren Söhnen letzten Endes doch noch einen Tag.

Iason, der Mann, der Medea alles schuldet, meint ihr gegenüber frei jeder Verpflichtung zu sein und vergibt ihr sogar, dass sie ihn nicht liebe. Dadurch ist Medea vollkommen gedemütigt worden, was ihr doch ein Ansporn ist. Es war nur körperliche Liebe, eine Spielerei. Jedoch vergisst Iason, dass er es war, der Medea in diese Spielereien einführte. Nachdem die Königstochter das Geschenk der Medea akzeptiert hat, rennt sie, mit Furcht und Schuldgefühlen erfüllt, aus dem Palast, aus der Stadt hinaus und wirft sich in die Tiefe, worauf ihr Vater ihr in Kürze folgt. Von diesen Vorfällen anscheinend überhaupt nicht angetan, gibt sie ihren Kindern ihr letztes Bad. Sie werden nach dem Einschlafen mit einem Messer sanft ermordet, wobei der begleitende Gesang erlischt und Medea selbst einschläft. Beim Sonnenaufgang setzt Medea das Haus in Brand und entgegnet, hauptsächlich der eigenen Genugtuung wegen, den Vorwürfen Iasons: Jetzt sind die Träume nichts. Nichts ist jetzt noch möglich.

Mit dieser doppelten Negation endet der Film von Pasolini und seine Sicht über die Medea, die mit dem modernen Empfinden der Entwurzelung in Zusammenhang zu bringen ist. Parteiische Konflikte, Kriege, Hungersnöte und lang andauernde Militärdiktaturen prägen das politische Gesamtbild des zwanzigsten Jahrhunderts. Familien wurden gespalten und durch den politischen Exil über den alten Kontinent und den Atlantik hinaus zerstreut. Das Empfinden, nirgends mehr auf natürliche Weise in einer direkten Beziehung mit dem Stück Erde, auf dem man lebt, zu stehen, wohnte vielen solcher Menschen sowie ihren Nachfahren heutzutage auch weiterhin inne.

Quellen

Medea. Regie: Pier Paolo Pasolini. Italien, Frankreich, Deutschland 1969.

Bruno Gentili e Franca Perusino (A Cura di): Medea nella letteratura e nell’arte. Venezia: Marsilio Editori, 2000.

James J. Clauss and Sarah Iles Johnston (Ed.): Medea. Essays on Medea in Myth, Literature, Philosophy, and Art. Princeton (New Jersey): Princeton University Press, 1997.

Inge Stephan: Medea. Multimediale Karriere einer mythologischen Figur. Köln: Böhlau Verlag, 2006.

Claude Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie I. Frankfurt am Main, 1997. 226-253.

Niels Brügger und Orla Vigsø: Strukturalismus. Stuttgart: UTB, 2008. 46-54.

Ausstellung: Pasolini Roma. Martin-Gropius-Bau, Centre de Cultura Contemporània de Barcelona, Cinémathèque Française, Azienda Speciale Palaexpo – Palazzo delle Esposizioni, 2014.

Bilder

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Aufsatz ursprünglich als Bericht für eine universitäre Veranstaltung verfasst: Dr. Thomas Poiss: Antike Mythologie. Humboldt-Universität zu Berlin, Wintersemester 2014/2015.

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