Der Eneasroman

Herrschaftslegitimation durch Genealogie, Memoria und Translatio imperii

Der Antikenroman

Der Antikenroman ist eine Gattung der weltlichen Literatur des Mittelalters, die sich dadurch charakterisiert, dass sie Stoffe der griechisch-römischen Antike aufnimmt und neu behandelt. Ähnlich dem Minnesang und den anderen Arten der höfischen Epik, die im zwölften Jahrhundert auftauchen, steht der Antikenroman auch in enger Verbindung zur französischen, beziehungsweise okzitanisch-provenzalischen Tradition. Die lateinische Literatur (beispielsweise Vergil und Statius) war im Mittelalter Bestandteil der schulischen Ausbildung. Da die geschichtliche Wahrnehmung der Zeit, stark durch die biblische Vier-Welten-Lehre geprägt, eine Kontinuität zwischen Antike und Mittelalter projizierte, schien die Übernahme von Erzählstoffen auf den ersten Blick unproblematisch. Trotzdem spricht man von einem Prozess der Mediävalisierung, um auf die Anpassung antiker Themen an zeitgenössische Umstände hinzuweisen. Dieser Prozess wurde vorerst von den französischen Autoren durchgeführt. Antike Gottheiten werden so beispielsweise in ihrem Wirken reduziert, jedoch nicht ausgeblendet oder dämonisiert, da der Antikenroman keinen theologischen Anspruch hatte. Der Eneasroman von Heinrich von Veldeke gehört dieser Gattung an und seine Entstehung wird üblicherweise in die zweite Hälfte des zwölften Jahrhunderts gesetzt, womit er nach dem Alexanderroman vom Pfaffen Lamprecht als der zweite Antikenroman in deutscher Sprache gilt.

Das antike Vorbild

Der Lateinische Dichter Publius Vergilius Maro verfasste ca. zwischen den Jahren 29 und 19 vor Christus die Aeneis, ein programmatisches Werk der römischen Literatur. Der Autor gebraucht hier eine künstlerische, jedoch in Anlehnung an Ilias und Odyssee stark stilisierte Sprache. In Anlehnung an diese Vorgänger ist die zeitliche Struktur der Aeneis komplex: sie beginnt in medias res und folgt einem ordo artificialis. Das Werk hat über den literarischen Wert hinaus eine große politische Bedeutung, da viele Mythen so ausgelegt werden, dass die Gründer Roms als Vorfaren der gens Iulia und somit des Augustus dargestellt werden. Es handelt sich um ein national-römisches Epos, in dem die Aufwertung verschiedener Tugenden wie der uirtus, der religio oder stoischer Werte einen zentralen Platz einnehmen. Diese politische und zum Teil auch moralisierende Dimension war im Mittelalter verloren gegangen oder erhielt keine weitere Beachtung.

Das altfranzösische Vorbild

Das französische Vorbild ist ein wohl um 1160 entstandenes, altfranzösisches Epos, dessen Verfasser unbekannt ist. Es ist ein roman d'antiquité (dt. Antikenroman) und enthält sowohl Elemente der chanson de geste (dt. Lieder von Taten) als auch des roman courtois (dt. höfischer Roman). Es gilt als unmittelbares Vorbild, wobei er allerdings im Epilog, der ohnehin umstritten ist, nicht namentlich genannt wird und der Bezug direkt mit dem Lateinischen aufgestellt wird. Als Innovation Heinrichs von Veldeke kann die Bemühung um die reine Form angesehen werden, wobei Enjambements vermieden werden und der reine Reim der Assonanz bevorzugt wird.

Aufbau und Inhalt des Eneasromans

Im Vergleich mit dem lateinischen Vorbild ist an erster Stelle zu bemerken, dass der ordo artificialis zugunsten des ordo naturalis aufgehoben wird. Im Allgemeinen werden die erzählenden Passagen einfacher, wobei der Fokus weniger auf die Taten an sich gelenkt wird. Viel mehr bilden ausschweifende Beschreibungen, mit einem Hang zur Reflexion und zur Idealisierung das ästhetische Zentrum. Der bereits erwähnte national-römische Charakter wird zugunsten der Minnethematik verdrängt und es wird im Gegenzug ein Kontrast zwischen minne und mâze aufgebaut. Die Lavinia-Handlung wird stark ausgebaut und in Kontrast zur Dido-Affäre gestellt (siehe beispielsweise Vers 280, 4: daz sûze ungemach). Formell gesehen setzt Heinrich von Veldeke eine Innovation durch, da er Gebrauch vom höfischen Reimpaarvers macht und damit einen hohen Anspruch an die Reinheit des Verses verbindet.

Zusammenfassung

Handlungstragende Charaktere: Paris (Prinz von Troja), Helena (Frau des Menelaos, galt als schönste Frau der griechischen Welt), Menelaos (König von Sparta), Eneas (Sohn der Venus und Nachfahre des Dardanos), Juno, Dido (Königin von Karthago)

Der Roman beginnt mit einer Kurzfassung von der Schlacht um Troja, das als bedeutendes Ereignis in der griechischen Mythologie dargestellt wird. Der Krieg zwischen Achäern (Griechen) und Trojanern (Asiaten) wurde durch das Urteil des Paris ausgelöst, der zwischen Juno, Venus und Minerva entscheiden musste, welche die schönste sei. Er entschied sich für Venus, die ihm zur Belohnung die Liebe der schönsten Frau Griechenlands versprach, und gab ihr den goldenen Apfel. Als Paris eine Zeit später in Sparta als Gast des Menelaos haust, trifft er auf Helena und die beiden verlieben sich augenblicklich.

Wieder in Troja, gegen das Ende der Belagerung und kurz vor der kompletten Zerstörung der Burg, tragen die Götter Eneas im Traum auf, die brennende Stadt zu verlassen. So spricht er sich mit Gefolgsleuten ab und überzeugt sie, mit ihm zu fliehen. Eneas und seine Getreuen besteigen zwanzig von den Griechen zurückgelassenen Schiffe und fliehen auf das Meer mit ihren Besitztümern, darunter eine Götterfigur.

Juno grollt Eneas' Mutter Venus wegen des goldenen Apfels und lässt Eneas mit seinen Schiffen sieben Jahre auf den Meeren herumirren. Schließlich jedoch erreichen sieben Schiffe die Strände Karthagos an der libyschen Küste, wo sich durch einen Trick von Venus die Herrscherin Dido in Eneas verliebt. So bilden die beiden nach einiger Zeit ein Paar. Die Götter fordern allerdings wieder Eneas' Aufbruch, da ihm ein anderes Schicksal bevorsteht. Als Eneas Karthago verlässt, begeht Dido aus Kummer und Zorn Selbstmord, wobei sie den Nachfahren des Eneas' ewigen Hass schwört.

Eneas wird von der Prophetin Sybille in die Unterwelt geschickt, wo sein Vater ihm aufträgt, nach Italien zu fahren. Auf der italischen Halbinsel angekommen, wird Prinzessin Lavinia in Laurentum Eneas verspochen, weil die Götter es dem König so verhießen, obwohl diese schon dem Turnus versprochen wurde. Nach langen Auseinandersetzungen mit dem ehemaligem Verlobten Turnus, gewinnt Eneas schließlich im Zweikampf und heiratet glücklich Lavinia und sie zeugen zwei Söhne: Silvius Eneas und Ascanius/Julus, die viel von ihrem Vater erbten. Eneas' Nachfahren werden als tapfer, berühmt und beliebt bei den Frauen beschrieben. Zu diesen gehören auch Romulus und Remus, sowie Caesar und Kaiser Augustus.

Vergleich

Pvblivs Vergilivs Maro
Aeneis, IV 160-172
Interea magno misceri murmure caelum
incipit; insequitur commixta grandine nimbus;
et Tyrii comites passim et Troiana iuuentus
Dardaniusque nepos Veneris diuersa per agros
tecta metu petiere; ruunt de montibus amnes.
Speluncam Dido dux et Troianus eandem
deueniunt: prima et Tellus et pronuba Iuno
dant signum; fulsere ignes et conscius aether
conubiis, summoque ulularunt uertice nymphae.
Ille dies primus leti primusque malorum
causa fuit; neque enim specie famaue mouetur,
nec iam furtiuum Dido meditatur amorem:
coniugium uocat; hoc praetexit nomine culpam.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Heinrich von Veldeke
Eneasroman, V. 1834-1856
dô nam der hêre Ênêas
die frouwen under sîn gewant.
wol geschaffen her si vant.
her begreif si mit den armen.
do begunde ime irwarmen
al sîn fleisch und sîn blût.
dô heter manlîchen mût,
dâ mite gwan er di oberen hant;
der frouwen her sich underwant.
in ne was nieman nâ,
si beidiu wâren eine dâ.
vile schône was diu stat.
minnechlîche her si bat,
daz si in gewerde
des si selbe gerde,
(iedoch sprach si dar wider)
und er legete sie dar nider,
alsez Vênûs geriet:
sine mohte sich erweren niet.
her tete ir daz her wolde,
sô daz her ir holde
manlîche behielt.
ir wizzet wol, waz des gewielt.

 

Quellen

Gert Hübner: Ältere deutsche Literatur. Tübingen und Basel: A. Francke Verlag, 2006.

Meinolf Schumacher: Einführung in die deutsche Literatur des Mittelalters. Wiesbaden: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2010.

Bilder

Titelbild: Heinrich von Veldeke: Eneit : Ms. germ. fol. 282 , [um 1220/1230], 11 v. Digitalisierte Sammlungen der Staatsbibliothek zu Berlin (Aufgerufen am 16. Januar 2018). http://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht?PPN=PPN833652451&PHYSID=PHYS_0040&DMDID=DMDLOG_0006&view=overview-fulltoc

 

Script eines Referates ursprünglich für eine universitäre Veranstaltung verfasst: Carmen Stange: Einführung in die ältere deutsche Literatur. Humboldt-Universität zu Berlin, Wintersemester 2016.

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